Frankreich (Bordeaux) - - - - Krankheitsverschlimmerung
(1802 – 1806)
Zeittafel
1801: 10. Dezember: Hölderlin reist
zu Fuß über Straßburg nach Bordeaux
1802:
Januar:
Eintreffen in Bordeaux
10. Mai:
Er bekommt einen Pass für die Reise (über Paris) nach Straburg
07.
Mai: Pass zur Ausreise aus Frankreich
22. Juni: Tod
Susettes
Ende
Juni: Er kommt sehr zerrüttet über Stuttgart nach Hause. Verbringt den
Sommer in Nürtingen.
Oktober: Er nimmt mit
Sinclair am Regensburger Prozess teil
1803:
Januar:
„Patmos“ wird dem Landgrafen von Hessen-Homburg übermittelt; Hölderlin führt
ein sehr
zurückgezogenes Leben
1804: Juni: Sinclair
holt ihn nach Homburg, wo er ihm eine Sinekure als Hofbibliothekar verschafft
1802-
1804 Er
schreibt weiter, trotz Krankheit und Trauer. Arbeit an den Sophokles-Übersetzungen,
die im
April erscheinen
1805:
Sinclair,
und durch ihn auch Hölderlin, werden in den Homburger Hochverratsprozess
verwickelt.
Ärztliche Gutachten über Hölderlins „Hypochondrie“ und
„verwirrten Gemütszustand“
Die „Nachtgesänge“
erscheinen.
nach:
David Constantine, „Friedrich Hölderlin“,
Beck´sche Verlagsbuchhandlung, München, 1992
Abbruch des Aufenthaltes Bordeaux (1802): Heute hat der deutsche Hofmeister der Familie
des Konsuls Meyer seine Rückreise angetreten. Die Familie hat der geistig
anscheinend nicht ganz gesunde Mann erst einen Tag zuvor in Kenntnis
gesetzt. Doch dieses Ende kam für Meyers nicht überraschend. Schon seit
seiner Ankunft vor 5 Monaten wirkte der junge Mann
verwirrt. Er lebte sehr zurückgezogen und schien unter
Halluzinationen und Angstzuständen zu leiden. Wie die Familie berichtet,
stellte sich bei einem Ausflug ans Meer, das Hölderlin noch nie zuvor
gesehen hatte, eine zeitweilige Besserung ein. Er sprach von einem
„gewaltigen Element“, und die Kinder fanden in ganz verändert, nämlich
lachend.
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Peter
Härtling
Nürtingen,
Marktstraße, Hölderlin und Bordeaux
Was
ist das für
eine Stadt gewesen, Bordeaux? Nicht
die dem Konsul und
uns
bekannte. Ein
Fieberherd, eine
Gedächtnislücke oder
der Beginn einer Fluchtspur. Nun, auf
der Marktstraße, wo
die Stimmen vertraut sind, fallen
die Bilder – das
sich verabschiedende Gesicht
im Fenster, das
verschneite Gebirg und
vielleicht noch Paris – zurück in
einem einzigen Atemzug, der
ihm, dem allzu Ungeduldigen,
das
restliche Leben erlaubt. „An Hölderlin – Zeitgenössische Gedichte“, Herausgeber: Hiltrud Gnüg, Philipp Reclam jun. Stuttgart 1993
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Brief
Sinclairs an Hölderlin, in dem er ihn über den Tod von Susette Gontard informiert: „Homburg vor der Höhe, den 30ten
Jun. 1802.
Lieber
Hölderlin!
So
schrecklich mir die Nachricht ist, die ich dir zu geben habe, so kann ich
doch nicht das dem Zufall überlassen, wogegen die Hülfe der Freundschaft
zu gering ist (...) Der edle
Gegenstand Deiner Liebe ist nicht mehr, aber er war doch Dein, und wenn es
schrecklich ist, ihn zu verlieren, so ist es kränkender, nicht der Liebe
würdig geachtet zu werden (...) Trost weiß ich Dir keinen zu geben, besser, als Du selbst hast. Du glaubtest an Unsterblichkeit, da sie noch lebte, Du wirst gewiß itzt mehr denn vorher glauben, da das Leben Deiner Liebe sich vom Vergänglichen geschieden hat (...) Am 22ten
dieses Monats ist die G. [Susette Gontard] gestorben, an den Rötheln, am
10ten Tag ihrer Krankheit. Ihre Kinder hatten sie mit ihr und überstanden
sie glücklich. Sie hatte den verflossenen Winter einen gefährlichen
Husten gehabt, der ihre Lunge schwächte. Sie ist sich bis zuletzt gleich
geblieben. Ihr Tod war wie ihr Leben (...)“
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Peter
Härtling beschreibt in seinem Roman „Hölderlin“ eine mögliche Reaktion
auf die Nachricht von Susettes Tod in dem Brief von Sinclair (siehe oben). Diese Beschreibung eines typischen Anfalls dient dazu
sich einen Eindruck von Hölderlins Krankheitsbild zu verschaffen:
[Hölderlin ist kurz zu Besuch bei einem Freund in
Stuttgart (Landauer), als er Sinclairs Nachricht erhält]
„Ohne eine Nachricht zu
hinterlassen, flieht Hölderlin aus dem Haus. Er muß nach Nürtingen! Alles,
was ihn in den letzten Tagen belebt, seine Gedanken erfrischt hatte, ist
geschwunden. Er ist leer, ein leerer Raum, in dem einige Sätze lauter und
lauter werden und widerhallen. Die Trauer springt um in Wut. Nicht die Welt,
nicht die missgünstige Zeit ist es gewesen, die Gefälligkeiten, die
Geselligkeiten haben sie umgebracht. Jene, die ihn zur Seite gedrückt,
vertrieben hatten. Die Namenlosen, die Schrecklichen, die Mächtigen. Er läuft
wortlos die Stiege zu seinem Zimmer hinauf, öffnet das Fenster, stößt einen
Schrei aus, den Johanna [seine Mutter] ihr Leben lang nicht vergessen würde,
trommelt sich mit den Fäusten gegen die Brust, reißt sich Haare aus, schreit,
nimmt einen Stuhl, schlägt ihn gegen die Wand, wirft ihn aus dem Fenster,
danach die Waschschüssel, den Krug, die kleine Stellage. Die Frauen [Mutter und
Schwester] trauen sich nicht, zu ihm in die Stube zu gehen. Planck [der Arzt]
kommt in Begleitung von drei Männern. Sie drehen ihm die
Arme auf den Rücken. Wieder sind es seine Widersacher, selbst die hier,
wieder wollen sie ihn wegdrängen, zum Schweigen bringen. Eine Hand legt sich
auf seinen Mund, droht ihn zu ersticken. Allmählich gibt er nach. Sie legen ihn
aufs Bett, binden ihn mit Stricken fest. Planck flößt ihm ein beruhigendes
Mittel ein. Der Arzt hebt ein Buch auf, das zu Boden gefallen war und beginnt
daraus vorzulesen. Es ist Homers Ilias. Er liest, die Wirkung stellt sich bei
dem Kranken augenblicklich ein. Sein verkrampfter Körper entspannt sich, die
geballten Hände öffnen sich, nach einer Weile spricht er die griechischen Sätze
mit.“
Peter Härtling, „Hölderlin – Ein Roman“, Luchterhand, Darmstadt 1976 (S. 541)
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Erschrockene
Freunde
Von seiner Mutter erfährt
Hölderlin 1803, dass sein Studienfreund aus Tübingen, Friedrich
Wilhelm Joseph Schelling, vorhat zu heiraten. Schon in
geistiger Umnachtung wandert Hölderlin nach Murrhardt, wo die Hochzeit
stattfinden soll. Schelling gibt sich Mühe mit dem Freund, ist aber von Hölderlins
Zustand sehr getroffen. So schreibt er an Hegel: „Der
traurigste Anblick, den ich während meines hiesigen Aufenthalts gehabt
habe, war der von Hölderlin. Seit einer Reise nach Frankreich (...) ist
er am Geist ganz zerrüttet, und obgleich noch einige Arbeiten, z.B. des
Übersetzens aus dem Griechischen bis zu einem gewissen Puncte fähig,
doch übrigens in einer vollkommenen Geistesabwesenheit. Sein Anblick war
für mich erschütternd: er vernachlässigt sein Äußeres bis zum
Ekelhaften und hat, da seine Reden weniger auf Verrückung hindeuten, ganz
die äußeren Manieren solcher, die in diesem Zustande sind,
angenommen.“
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Hölderlins
Schwester Rike Januar 1804: Es ist so schrecklich das hier mit anzusehen. Alles
hat sich geändert seit Fritz aus Frankreich zurück ist. Er ist nicht
mehr er selbst. Fast täglich wird er von Anfällen heimgesucht, die ihn
total entstellen. Er leidet unter Wutausbrüchen und Mama oder ich müssen
immer bei ihm sein, denn wenn sich sein ganzer Körper versteift und nur
noch das Weiße von seinen Augen zu sehen ist, lassen wir nach Doktor
Planck schicken. Auch nach einer
Reise mit seinem seltsamen Freund, dem Baron Sinclair, hat sich sein
Zustand nur für kurze Zeit gebessert. Anfangs durften Mama und ich
zumindest noch in seine Stube um sauber zu machen, jetzt bleibt uns sogar
das verwehrt. Er denkt wir stellen ihm nach, denn alles was er schreibt versteckt er vor uns und niemand darf zu ihm. Er verwildert zusehends. Nur meine drei Kinder, Christoph, Rikele und Fritz haben stets Zugang zu ihm. In ihrer Gegenwart scheint er fast normal... Auch
Karl hat sich verändert. Er ist besorgt um seine Reputation seit er einen
„Blöden“ in der Familie hat. Er geht ihm aus dem Weg. Mama bekommt auch weiter Briefe vom Baron, der darauf
drängt Fritz nach Homburg zu ihm zu schicken. Mama möchte nicht, sie hat
Angst ihn wieder zu verlieren. Aber vielleicht wäre es besser er ginge
nach Homburg, wie es sein Freund will... Besser für alle. (F)
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Hälfte
des Lebens Mit
gelben Birnen hänget Und
voll mit wilden Rosen Das
Land in den See, Ihr
holden Schwäne, Und
trunken von Küssen Tunkt
ihr das Haupt Ins
heilignüchterne Wasser. Weh
mir, wo nehm ich, wenn Es
Winter ist, die Blumen, und wo Den
Sonnenschein Und
Schatten der Erde? Die
Mauern stehn Sprachlos
und kalt, im Winde Klirren
die Fahnen. Anmerkung:
In dem Gedicht zeigen sich zwei sich gegenüberstehende Gefühlslagen des
Menschen: das Glück und die Verzweiflung. Das Gedicht ist trotz des
klaren Ausdrucks der Sterblichkeit ein Beweiß für menschliches Glück. Frankfurter Anthologie, Band 14, S. 101
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Baron
Isaac von Sinclair (10.September 1806; Ein Tag vor Hölderlins
Einlieferung in die Tübinger Klinik):
Isaac von Sinclair
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Oh der arme Hölder. Warum musste es soweit kommen.
Ich meinte es gut, als ich ihn 1804 von seiner Mutter und Nürtingen
fortbrachte um ihm in Homburg auf meine Weise zu helfen. Anfangs stellte
sich eine zeitweilige Besserung ein, eine Scheinbesserung, wie wir nun
wissen. Er hatte es gut in seinem alten Zimmer in der Neugasse, aber wie
in Nürtingen verschlechterte sich auch hier sein Zustand plötzlich. Er
verschloss sich ganz. Zudem
waren ich selbst und auch Hölder in den Homburger Hochverratsprozess
verwickelt, doch glücklicherweise wurde ihm in |
einem Gutachten ein „verwirrter Gemütszustand“
bescheinigt. Er konnte nicht zur Verantwortung gezogen werden. Doch sein Zustand verschlechterte sich zusehends. Er und sein Zimmer waren verschmutzt, jedem der das Zimmer betrat drang ein ekelhafter Geruch entgegen. Zum Schluss erkannte er auch mich nicht mehr. Mir blieb keine andere Wahl, als ihn einweisen zu lassen. Das ist doch verständlich, oder? (F)
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