Kurzbiographie Hildegards

 

2.1 Frühe Kindheit vor und im Krieg:

Hildegard Drenkhahn wurde am 27.06.1933 in Buchen als älteste von 5 Kindern geboren. Ihr Vater Ernst Drenkhahn war Lokomotivführer bei einer kleinen Bahn, die Mutter Lydia Hausfrau. Hildegard folgten noch 4 weitere Kinder: Christel (1935), Friedhelm (1936), Rudi (1940) und Reiner (1943). An die Zeit vor dem Krieg kann sich Hildegard naturgemäß nicht mehr recht erinnern. Ihre frühesten Erinnerungen beginnen eigentlich mit der Schule. Die Schule, die sie im nahegelegenem Lobsens besuchte, machte ihr „großen Spaß“.  Deshalb war sie auch ziemlich traurig, als Ende 1944/ Anfang 1945 die Lehrerin den Kindern mitteilte, dass sie ab jetzt nicht mehr zur Schule gehen dürften, da die Russen in der Nähe seien. Sie würde den Kindern aber Bescheid geben sobald sie wieder kommen könnten. Hildegard ging auch gerne zum Jungmädelbund (Teilorganisation der Hitlerjugend für Mädchen im Alter von 10 – 14 Jahren), dort war es „wunderschön“ .Es wurde gebastelt, gesungen, Sport betrieben und von den „netten Betreuer“ Bon-Bons verteilt.

Vom Krieg habe sie als Kind gar nichts mitbekommen. Sie hatten immer genug zu essen. Der einzige Berührungspunkt mit dem Krieg war der Tag, an dem der Vater eingezogen wurde und nach Frankreich kam. Aber auch das fiel ihr nicht weiter auf, denn er kam ja ab und zu auf Urlaub und „als Kind gewöhnt man sich dran“. Das kleine Dorf in dem sie lebten war weitgehend evangelisch, und ihre Mutter war sehr christlich. So kam es auch, dass die Mutter polnische Bürger (Familie Schimanski) bei sich „unter den Betten“ versteckte. Doch als Ernst Drenkhahn auf Urlaub zurückkam und das bemerkte, gab es einen Streit, denn er hatte Angst vor der Gestapo. Das damalige Verhältnis zu den Polen war noch ganz normal. Nach eigenen Angaben hatte Hildegard auch polnische Spielgefährten.

2.2 Beschreibung der Nacht des russischen Überfalls:

Doch das alles änderte sich in der Nacht von Sonntag den 28.01.45 auf Montag den 29.01.45. Denn in dieser Nacht kamen die Russen („Kosaken“) in das Haus der Drenkhahns und brachten sie in ein Haus in dem schon viele andere Deutsche Familien waren. (Ernst Drenkhahn war zu dieser Zeit schon in Frankreich in Kriegsgefangenschaft.).´ In dieser Nacht konnte Hildegard kaum schlafen, denn die Frauen wurden im Keller vergewaltigt. Dieser auf den ersten Blick ziemlich strittig scheinende Punkt wird von Helga Hirsch indirekt bestätigt: „Erst kamen die Rotarmisten, vergewaltigten Frauen und Mädchen(...)“. Ob ihre eigene Mutter auch dazu gehörte, kann sie nicht genau sagen, aber aus den Gesprächen, die ihre Mutter mit anderen Frauen führte, ging dies wohl hervor. Anfangs durften die Deutschen tagsüber noch zurück in ihre Wohnungen; später mussten sie ganz in dem Haus bleiben. Eine Frau musste auf alle Kinder den Tag über aufpassen und die anderen Frauen mussten Gräben ausheben. So kam es, dass die 5 Kinder ihre Mutter fast gar nicht mehr sahen. Ihnen wurde eine Glatze geschnitten, da sie ja „deutsche Schweine“ waren, und geschlagen wurden sie auch. Sie mussten sich zu viert ein Bett teilen. Reiner, der gerade mal 2 Jahre alt war, wurde weg gegeben (an eine polnische Familie), kam aber bald zurück, da er dort noch schlechter versorgt wurde.

 

2.3 Das Leben bei Familie Rogazki:

Nach ein paar Wochen wurden die Kinder auf verschiedene polnische Bauernhöfe verteilt, wo sie arbeiten sollten. Hildegard kam zur Familie Rogazki. Dort wurde sie den ganzen Tag terrorisiert und schikaniert. Selbst Nachts ließ man sie nicht in Ruhe. Die Bäuerin legte ihr eine Ratte ins Bett, und Hildegard musste sie unter der Androhung von Schlägen im Bett lassen. Sie hatte „schreckliche Angst“. Auch die Kinder des Bauern schikanierten sie die ganze Zeit, „aber zum Glück waren sie die meiste Zeit im Internat“. Hildegard durfte sich z.B. nicht im selben Raum aufhalten wie die Polen und musste hungern. Zu Weihnachten bekamen die Kühe Extra-Futter, Hildegard aber nicht, also hat sie ein paar Kartoffeln aus dem Tierfutter gestohlen. Eines Tages kam ein entfernter Verwandter der Rogazkis zu Besuch und schenkte Hildegard Schokolade und ein paar Zlotti (polnische Währung). Diesen Mann hatte sie immer gut in Erinnerung, auch wenn sie sich an den Geschenken nicht lange freuen konnte, denn die Bäuerin nahm ihr in einem stillen Moment die Zlottis und die Schokolade weg und beschimpfte sie.

Schon zu dieser Zeit mussten die Deutschen oft zum Zählen ins Lager Potulice, durften aber am Abend immer gehen. Irgendwann erfuhr sie, dass ein Bauer ein Mädchen, das sie beim zählen kennen gelernt hatte, totgeschlagen hat und nun betet. „Ich konnte nicht verstehen was für einen Gott die Polen haben, das solche Mörder zu dem beten dürfen“. Seid diesem Tag verspürt Hildegard eine starke Abneigung gegenüber dem katholischen Glauben. Und alle Menschen, die katholisch sind, sind in ihren Augen auch Polen. Dies sollte sich auch noch auf ihre Zukunft und die ihrer Kinder auswirken.

 

2.4 Empfindungen den Polen gegenüber:

Auf die Frage, was sie in dieser Zeit über die Polen gedacht habe, antwortete sie: „Ganz schlecht!“ In ihren Augen seien das „keine Menschen“ sondern viel mehr „Tiere, die an den falschen Gott glauben“. Empfunden habe sie in solchen Situationen eigentlich nur „Angst“ und „Demütigung“.

 

2.5 Das Leben im Lager Potulice:

Im Herbst 1947 kam Hildegard mit nun 14 Jahren ganz ins Lager. Sie lebte dort in Baracke Nr. 13 (von insgesamt 27) mit ca. acht anderen. Ihre Geschwister waren in anderen Baracken und nur der kleine Reiner durfte zu seiner Mutter, die die anderen schon so lange Zeit nicht mehr gesehen hatten. Hildegard bekam das Lager nicht gut. Schon in der 2. Nacht wurde sie so sehr von Wanzen (oder ähnlichen Tieren) gebissen, gegen die sie eine Allergie hatte, dass sie in die Krankenbaracke kam. Dort durfte sie dann in einem „richtigen Bett“ schlafen. Neben ihr lag ein anderes krankes Mädchen, das Hildegard bat sie möge doch ihren Eltern Bescheid sagen, wenn sie es nicht überleben würde, denn sie sei das einzige Kind. In der Nacht wärmten Hildegard und eine andere Frau das Mädchen, weil „sie so kalt war“. Am nächsten Morgen kam der Arzt und diagnostizierte den Tod bei dem Mädchen. „Sie war die ganze Nacht schon tot gewesen“.

Das Erste, was Hildegard auf die Frage nach dem Alltag in Potulice antwortete, war: „Arbeit“. Sie musste von Morgens bis Abends in der Küche oder in der Näherei arbeiten, nur unterbrochen von einer kurzen Mittagspause und den oft Stunden dauernden Appells, die bei jedem Wetter draußen abgehalten wurden. Eine Tagesration Essen bestand aus „300g Brot, ein Liter warme wässrige Suppe, ein Liter Kaffee aus Gerste“.* Das Abendessen musste man immer sofort essen, denn sonst wurde es einem über Nacht gestohlen. Den Deutschen Frauen wurde der Kopf kahlgeschoren und auch der Rest des Körpers von Haaren befreit. „Jeden Monat wurde die Rasur wiederholt, damit die Haare nicht über die vorschriftsmäßige Länge von einem Zentimeter hinaus wuchsen“.# Im Lager durfte nur polnisch geredet werden. Jeder der deutsch redete wurde bestraft- auch Kinder.  So kam es, dass Reiner, der Jüngste der Kinder, nach seiner Entlassung nur polnisch sprechen konnte. Eine Bestrafungsmethode war (neben dem Schlagen und Misshandeln) der Bunker. Das war ein Raum, der sehr eng und leer war. Hildegard erinnert sich einmal darin gewesen zu  sein, weiß aber nicht mehr aus welchem Grund. In ihrer Erinnerung konnte man im Bunker weder liegen noch sitzen. Man konnte nur stehen. Die Erklärung für diese auf den ersten Blick seltsam scheinende Erinnerung fand ich erst später im Buch von Helga Hirsch. Der Bunker war mit Wasser bedeckt. Der Raum war 2 mal 2 Meter groß. Wenn es jemand wagte, sich über solche Foltermethoden für Kinder zu beschweren, wurde immer erwidert: „Schnauze! Das ist deutsche Kultur, das habt ihr selbst gebaut!“ Das spielt sicherlich darauf an, dass Potulice früher wirklich ein Arbeitslager der Deutschen war. Die Polen kopierten zum Teil absichtlich Geflogenheiten, die die Deutschen den Polen gegenüber verwendet hatten. So mussten die Deutschen in den Lagern nun ein Hackenkreuz mit einem „N“ auf der Kleidung tragen anstatt wie die Juden einen Davidstern. „N“ steht für „niemka“, was so viel heißt wie „das deutsche Pack“. Ein anderer Ausspruch, den man dort oft zu Ohren bekam, war: „Die Deutschen haben keine Kultur und keinen Anstand“.

Vor allem für die kleinen Kinder waren die Nächte das Schlimmste, denn es gab überall im Lager Ungeziefer und Ratten. Die Kinder, die sich nicht richtig wehren konnten, waren oft ganz von Rattenbissen übersäht (Reiner).

Am Meisten sind Hildegard die Schikanen in Erinnerung geblieben, die sie oder andere erleiden mussten. Zur Zeit als sie noch nur zum Zählen ins Lager kommen mussten, wurde z.B. vor den Augen aller Leute ein Mann mit einem Gewehrkolben erschlagen, weil er zu langsam war. Solcher Art Vorfälle gab es auch später noch. So wurde in der Baracke gegenüber eine Frau mit einem Hocker erschlagen, weil sie bei der abendlichen Kontrolle nicht schnell genug war. Auch bei der Entlausung wurden Menschen misshandelt, die zu langsam waren. „Ihnen hing die Haut in Fetzen hinunter“(vgl. solche Geschehnisse mit Helga Hirsch S. 101 – 104) . Auch ihre Mutter wurde vor ihren Augen misshandelt, und das von Jannik Schimanski, der Sohn der Familie, die ihre Mutter während des Krieges versteckt hielt. Beim Duschen wurden erst alle Leute in einen großen Raum geführt und mussten sich entkleiden, dann wurden die Duschen angestellt und zwar auf kochend heiß („das die Haut verbrannte“) und auf eiskalt. Im Winter, wenn es gefroren hatte, ließ die polnische Miliz Menschen in dem nahegelegenen Fluss stundenlang stehen. Zu Weihnachten bekamen die Frauen des Lagers dann Binden und BHs aus Nesseln. Ob sie selbst schon dazu gehörte, weiß Hildegard heute nicht mehr.

Währenddessen war Ernst Drenkhahn schon aus der Gefangenschaft zurückgekehrt und stellte erfolglos Anträge beim Roten Kreuz auf Rückführung seiner Familie in den Westen.

An drei wichtige Erlebnisse erinnert sich Hildegard heute noch genau. Erstens an den Tag, an dem sie zum ersten Mal begriff, was die Deutschen auch den Polen angetan hatten. Sie beobachtete heimlich, wie ihre Mutter und andere Frauen bei einem Kloster in der Nähe tote Nonnen ausgraben mussten, die von Deutschen damals vergewaltigt und getötet wurden. „Da habe ich mich auch als deutsches Schwein gefühlt!“. Mit der Erkenntnis, dass die Deutschen auch zu solchen Taten fähig waren, kam auch die Resignation: „Ich habe das Schicksal angenommen.“.

Zweitens erinnert sie sich noch an die Angst Polin zu werden. Aus irgendeinem Grund (sie weiß heute nicht mehr wie), hatte Hildegard erfahren, dass ihrer Mutter das Angebot gemacht wurde, wieder frei zu kommen, wenn sie die polnische Staatsbürgerschaft annehme. Sie wusste nun, wenn sie jetzt raus kämen, dann wären sie Polen. Und das wollte sie nicht. Hildegard und ihre Geschwister sind der Mutter heute noch dankbar, dass sie das Angebot nicht angenommen hat. Das dritte Erlebnis ereignete sich im Steinbruch, in dem sie ein paar Wochen arbeiten musste. Sie wurde da zwar nicht geschlagen, aber es gab dort auch weniger Essen. So schrieb sie an die Rogazkis einen Brief und bat um Essen, und sie bekam es. Außerdem hat sie vor lauter Hunger jeden Tag einem Posten dort das Brot von immer der gleichen Stell stibitzt. Nach ein paar Tagen war der Posten dahinter gekommen und es lagen von nun an immer 2 Brote dort. Später sagte sie über diesen Polen: „Alle Polen sind nicht schlecht, aber ich glaube der Nette, der war deutscher Abstammung - oder zumindest kein reiner Pole!“

Im April oder Mai 1949 wurde die ganze Familie Drenkhahn auf einmal zusammen in eine andere Baracke mit ganz vielen Menschen gelegt. Ein Grund wurde ihnen nicht genannt. Für die Kinder war das ganz schön beängstigend, denn sie durften diese Baracke nicht mehr verlassen und wurden zwischendurch untersucht. Was Hildegard zu dieser Zeit nicht wusste, ist, dass es sich hierbei um eine Quarantäne-Baracke handelte.

 

2.6  Entlassung und Flucht nach Westen:

An einem „ganz schönen“ Tag im Mai wurden sie dann zum Bahnhof in Nakel (nahe bei Potulice) gebracht. Die Mutter war krank. Sie hatte im Lager zweimal Typhus gehabt und war sehr geschwächt. Ein Ziel wurde ihnen immer noch nicht genannt. Sie wurden in einem Viehwaggon 2 Tage lang nach Frankfurt (Oder) gefahren. Er war überfüllt mit Menschen, es gab keine Toilette und überall wurde geschrieen. Später in Dessau wohnten sie auch in Baracken (es handelte sich dabei um ein Quarantäneaufenthalt: siehe Anlage 5.2), mussten aber keinen Hunger mehr leiden. Dort erfuhren sie auch endlich das Ziel: West-Deutschland. Dann wurden sie nach Schweinitz in die DDR gefahren, doch niemand wollte ihnen eine Übernachtungsmöglichkeit bieten. Schließlich wurde der Besitzer einer Wirtschaft gezwungen die Familie aufzunehmen. Er gab ihnen nichts zu essen, also mussten die Kinder betteln gehen. Die Mutter konnte nicht mit, denn sie war bereits so krank, dass sie nicht mehr laufen konnte. Sie trafen auf einen Deutschen, der ihnen das Angebot machte, dass sein Sohn sie in den Westen bringen würde, aber nur für sehr viel Geld. Die Mutter war einverstanden und gab dem Mann alles was sie besaß. Die Flucht glückte (Mutter im Bollerwagen). In Hemstett (im Westen; nahe der Grenze) angekommen, gab das Rote Kreuz den Kindern erst mal viel zu essen. Sie vertrugen es alle nicht, denn sie waren unterernährt. Dann fuhren sie mit einem richtigen Zug nach Wollsrode, um dort den Vater zu treffen. Als sie um 22.00 Uhr da ankamen wusste niemand dort so recht wohin mit der Familie, denn man war ja schließlich keine Flüchtlinge mehr gewohnt. Also ließ man die Familie ohne Essen im Zug übernachten und verständigte dann am Morgen den Vater.

 

2.7 Das Leben danach:

Die vereinte Familie zog nach Sieferdingen in einen umgebauten Schweinestall. Die Mutter hatte immer gesagt, sie wolle die Kinder nur noch dem Vater bringen, dann könne sie sterben. Es sollte auch so kommen. Am 22.12.1949 starb sie an einem geplatzten Blinddarm. Der zuvor verständigte Arzt war nicht bereit für das wenige Geld, das die Familie bieten konnte einen Hausbesuch zu machen. Zur Beerdigung der Mutter erschienen die Kinder in roten Mänteln, denn andere besaßen sie nicht. Ernst heiratete neu und zwar die Schwester seiner verstorbenen Frau. Sie zogen mit den drei Jungen und ihrer Tochter Erika aus Erster Ehe nach Neubeckum. Christel und Hildegard zogen allein nach Ahlen und begannen mit Aushilfsjobs. Später fing Hildegard in einer Strickerei in Oelde an.

 

2.8 Beziehung zu Polen heute:

Auf die Frage nach ihrer heutigen Beziehung zu Polen entgegnet Hildegard entrüstet: „So welche sollen mir nicht mehr in die Stube kommen. Wenn ich was höre wie deutsch polnische Freundschaft kommt mir die Kotze hoch!“ Die Angst ist auch nach so vielen Jahren noch geblieben: „Ich würde einem Polen auch heute immer noch Platz machen und den Schwanz einziehen, nie auf mein Recht bestehen.“ Aus solchen Kommentaren geht hervor, dass die Sicht eines direkten Opfers verständlicherweise kaum noch zu ändern ist. Solche Ereignisse und Demütigungen prägen den Menschen zu tief um sie zu verzeihen. Auch die vorhin genannte Tatsache, dass alle Drenkhahn-Kinder sich darüber einig waren, lieber das Lager Potulice zu ertragen als die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen, zeigt dies deutlich.



* Laut „Helga Hirsch“ kamen die Russen in Bromberg schon am 25.01.1949 an

` Quelle: Helga Hirsch „Die Rache der Opfer“/ S. 107

# Quelle: Helga Hirsch „Die Rache der Opfer“/ S. 100

 

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