Klinik und Turm - - - - Zustand geistiger Verwirrung

(1806 – 1843)

 

Zeittafel

1806        11. September: Hölderlin, der nun als wahnsinnig gilt, wird ins Tübinger Klinikum eingeliefert.

Veröffentlichung von „Stutgard“ und „Brod und Wein“

 

1807        Sommer: Hölderlin wird aus dem Klinikum entlassen, mit                „höchstens noch drei Jahren“ zu leben. Unterkunft bei Ernst                 Zimmer

Veröffentlichung von „Der Rhein“, „Patmos“ und „Andenken“

1815        Tod Sinclairs

1822        Die 2. Auflage von Hyperion erscheint

1826        Uhland und Schwab geben Hölderlins Gedichte heraus

1838      Tod Ernst Zimmers, Tochter Lotte übernimmt die Pflege

1842       Zweite, erweiterte Ausgabe der Gedichte Hölderlins

1843       7. Juni: Tod Hölderlins

nach: David Constantine, „Friedrich Hölderlin“,  Beck´sche Verlagsbuchhandlung

 

Dichter des „Hyperion“ als unheilbar krank entlassen

Tübingen 1807: In diesen Sommertagen ist Johann Christian Friedrich Hölderlin als unheilbar krank aus dem hiesigen Klinikum entlassen worden. Der verwirrte Dichter, der am Tübinger Stift Theologie studierte, war am 11 September vergangenen Jahres in einem Zustand geistiger Umnachtung von einem Freund hier eingewiesen worden. Nach vielen Bemühungen der fähigen Ärzte wurde der Dichter des „Hyperion“ nun gestern als unheilbar krank entlassen. Die Fachärzte geben ihm nicht mehr als 3 Jahre zu leben. Der hier ansässige Schreiner Ernst Zimmer, der schon während Hölderlins Zeit in der Authenrieths Klinik versucht hatte ein freundschaftliches Verhältnis zu dem Kranken aufzubauen, hat sich nun bereiterklärt den Verwirrten bei sich und seiner Familie aufzunehmen. (F)

 

 

Die Briefe an seine Mutter, die er, sooft Zimmer ihn dazu veranlasste, in den Jahren vor ihrem Tod schrieb, sind an Entfremdung und Leere kaum zu überbieten:

„Verehrungswürdigste Mutter!

Ich denke, dass ich ihnen nicht zur Last falle mit der Wiederholung solcher Briefe. Ihre Zärtlichkeit und vortrefliche Güte erwekt meine Ergebenheit zur Dankbarkeit, und Dankbarkeit ist eine Tugend. Ich denke der Zeit, die ich mit Ihnen zubrachte, mit vieler Erkentlichkeit, verehrungswürdigste Mutter! Ihr Beispiel voll Tugend soll immer in der Entfernung mir unvergesslich bleiben, und mich ermuntern zur Befolgung Ihrer Vorschriften, und Nachahmung eines so tugendhaften Beispiels. Ich seze das Bekentniß meiner aufrichtigen Ergebenheit hinzu und nenne mich

                                                                                                                                             Ihr  gehorsamen Sohn Hölderlin                                                                                                                                    Meine Empfehlung an meine theuerste Schwester.“

David Constantine, „Friedrich Hölderlin“,  Beck´sche Verlagsbuchhandlung, München 1992 (S. 102)

 

Lotte Zimmer (1841):  Ach ja, das der Hölderle jetzt bei mir und der Mutter bleibt ist das beste. Er ist nun ja schon 34 Jahre bei uns. Meine Schwester, Christiane, wollte nämlich nach Vaters Tode (Ernst Zimmer starb 1838) den Hölderle mit in ihren Haushalt nehmen, aber das konnte ich nicht zulassen. Er ist es doch gewohnt hier bei mir und Mutter zu leben. Ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Wie auch, als ich geboren wurde, war Hölderle schon 6 Jahre bei uns. Vater pflegte immer zu sagen, dass ich die schlimmste Zeit seiner Krankheit noch nicht erlebt habe. Das war vor meiner Geburt. Aber als Vater ein Klavier anschaffte, besserte sich seine Krankheit langsam. Ich kenne ihn als ruhigen, in sich gekehrten Menschen. Er nennt  mich „Heilige Jungfer Lotte“. Er bekommt viel Besuch, aber ich weiß nicht ob das so gut ist. Alles erfolgt immer nach dem selben Ritual. Ich, oder früher Vater, führe die Besucher herein. Er empfängt sie nie sitzend, sondern immer im Stehen an ein Schränkchen gelehnt. Er lässt nichts zu als den Austausch von Höflichkeiten. Hölderle versucht die Distanz zu wahren indem er seine Besucher mit erfundenen Titeln anredet. Für ihn ist jeder eine „Majestät“ oder „Euer Heiligkeit“.

 

Auch Besucher aus seiner Vergangenheit scheint er nicht mehr zu erkennen, oder erkennen zu wollen. Vor ein paar Jahren war z.B. Immanuel Nast bei uns. Nast erzählte mir, er kenne Hölderle noch aus der Schulzeit. Doch bei seinem Besuch lies sich Hölderle nichts anmerken und antwortete nicht mal auf seine Fragen. Die einzige Gefälligkeit zu der er sich überreden lässt, ist das Schreiben von kurzen Gedichten. Es sind meist 4-Zeiler, die er schnell, fast mechanisch aufs Papier kritzelt. Diese unterschreibt er dann mit Fantasienamen, z.B. „Scardanelli“, „Buanarotti“ oder „Salvator Rosa“ und fügt fantastische Daten an. Letztens hat er ein Gedicht mit dem „27. Januar 1676“ gekennzeichnet. Ob diese Besuche gut für ihn sind oder nicht kann ich nicht sagen, aber er muss sich schon ein stückweit wie ein    Schauobjekt vor-kommen, denn viele besuchen ihn nur um zu sehen wie ein wahnsinniger Dichter lebt. Ich bin auf jeden Fall froh, dass sich die Ärzte in der Klinik geirrt haben, als sie ihm nur noch 3 Jahre zu Leben gaben, denn ohne Hölderle wäre mein Leben nicht das gewesen was es war. (F)

 

 

  

Friedrich Hölderlin, von L. Keller, 1842

 

An Zimmern

Die Linien des Lebens sind verschieden,

Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.

Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen

Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.

 

Friedrich Hölderlin, „Werke/ Briefe/ Dokumente“, Winkler Weltliteratur, München 1963 (S. 215)

 

Erich Fried

In seinem Turm

„Euer Hoheit, Euer Gnaden,

Euer Heiligkeit, Euer Majestät,

der Abstand, der uns trennt,

ist zu groß für ein Tete-a-tete“

                „Nicht doch, Signore Scardanelli,

aus dem Abstand erwüchse ja Haß!“

„Oui, monsieur,

Sie behaupten das.“

                „Mein guter Scardanelli,

                ich behaupte das angesichts...“

Sie sagen so, Sie behaupten so.

Es geschieht mir nichts.“

                „Kommen sie mit spazieren,

                dass ich mir die Zeit vertreibe.“

Sie wollen die Zeit nicht verlieren:

Sie befehlen mir, dass ich hier bleibe.“

                „Scardanelli nur keine Bange!

                Eine Reise lässt sie genesen.“

„Euer Ehrwürden sind wohl schon lange

nicht mehr in Frankreich gewesen?“

                „Wo fängt die Freiheit an?

Ziehts Hyperion nicht nach solchen Orten?“

„Euer Majestät das darf, das kann

ich nicht beantworten.“

                „Mein lieber Hölderlin,

wer wie Sie die Zustände so sah...“

„Eure Heiligkeit

sprechen mit Scaliger Rosa.“

„An Hölderlin- Zeitgenössische Gedichte“, Herausgeb. Hiltrud Gnüg, Philipp Reclam jun. Stuttgart1993

Anmerkung: So oder so ähnlich könnten Gespräche mit Hölderlin in seinem Turm gewesen sein. Die von „Lotte“ genannten Eigenarten Hölderlins, wie z.B. die fantastischen Titel mit denen er sein Gegenüber anredet, und die Fantasienamen auf die er besteht, werden auch hier aufgegriffen.

 

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Ernst Zimmer über Hölderlin

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